Reformationsstadt Locarno
Schweiz
Locarno
Die Vertreibung
Locarno liegt am Nordufer des Lago Maggiore im italienischsprachigen Schweizer Kanton Tessin. Zu den Sehenswürdigkeiten gehören der Wallfahrtsort Orselina, das Stadtzentrum mit der weitläufigen Piazza und die Altstadt mit der mittelalterlichen Burg, den Kirchen sowie aristokratischen Palästen. Jedes Jahr im August findet das internationale Locarno-Festival statt. Es zählt zu den ältesten Filmkunstfestspielen und genießt Weltgeltung. Als Hauptpreis für den besten Film wird der Goldene Leopard verliehen. Von weitreichender historischer Bedeutung wurden die sogenannten Locarner Verträge von 1925, mit denen der völkerrechtliche Status Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg neu geregelt wurde.
Der Ort war vielleicht schon in der Bronzezeit besiedelt. Im Mittelalter gewährte Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, der Stadt das Marktrecht und die Reichsunmittelbarkeit. Die Alte Eidgenossenschaft eroberte sie 1503 und nahm sie endgültig 1513 in Besitz. Von da an gehörte Locarno zu den gemeinsam eroberten und verwalteten Untertanengebieten der Alten Eidgenossenschaft, die aus sieben katholischen und drei reformierten Kantonen bestand. Nach Süden grenzte der Ort an das Herzogtum Mailand.
In den 1540er Jahren, als Zürich und Glarus den Landvogt entsandten, was bedeutete, dass diese Kantone die Exekutive stellten, entstand in Locarno eine evangelische Gemeinde. Dabei nahm der katholische Priester, Lehrer und Reformator Giovanni Beccaria (1508-1580) eine führende Rolle ein. Beccaria stammte aus einer wohlhabenden Mailänder Familie. Er war humanistisch gebildet und hatte die reformatorische Entwicklung im deutschsprachigen Raum mit Interesse verfolgt. In Locarno leitete er seit 1536 die Lateinschule im Kloster San Francesco. Die Lektüre der Bibel und reformatorischer Schriften führte ihn wenige Jahre später zum evangelischen Glauben, den er an seine Schüler weitergab. So entstand nach und nach ein Netzwerk Gleichgesinnter, das sich hauptsächlich aus der adligen und bürgerlichen Oberschicht rekrutierte. Um sie gruppierte sich allmählich eine evangelische Gemeinde, die an die 200 Mitglieder umfasste, die sich jedoch zunächst angesichts drohender Verfolgung durch die Inquisition im Untergrund hielt.
Beccaria stand im Kontakt mit den Zürcher Reformatoren Konrad Pellikan und Heinrich Bullinger. Der Vogt aus Glarus sandte Bibeln aus Zürich und reformatorische Schriften nach Locarno. Als Beccaria 1547 die tägliche Messe abschaffte, kam es zum offenen Konflikt mit den katholischen Ortsgeistlichen. 1549 nahm er unter dem Vorsitz des katholischen Landvogts an einer Disputation teil, die mit seiner Verhaftung endete, da er die von ihm verlangte Annahme der katholischen Glaubenssätze nur unter der Bedingung bereit war zu akzeptieren, dass sie mit der Bibel übereinstimmten. Auf Druck der Bevölkerung jedoch gleich darauf wieder freigelassen, floh er im Jahr darauf ins Misox-Tal nach Graubünden, wo er dann als evangelischer Lehrer und Prediger tätig war.
In den 50er Jahre wuchs der Druck auf die evangelische Gemeinde zusehends, teils auch durch gezielte Verleumdungen wegen angeblich praktizierter Wiedertaufen in ihren Reihen. Auf Vermittlung Beccarias versprachen die reformierten Städte Bern, Schaffhausen und Zürich, den Locarnesern beizustehen. 1554 wurden die Mitglieder der „Christiana Locarnensis Ecclesiae“ von der Eidgenossenschaft vor die Wahl gestellt, entweder zum alten Glauben zurückzukehren oder den Ort zu verlassen. 120 erklärten, bei ihrem Glauben zu bleiben. Am 3. März 1555 brach die Hälfte der Bevölkerung Locarnos auf ins Exil, das ihnen in Zürich gewährt wurde. Unterwegs schloss sich Beccaria den Exilanten an. Im Juni trafen sie in Zürich ein. Ihre Vertreibung fand großes Echo in der damaligen europäischen Öffentlichkeit und wurde nach zeitgenössischen Berichten 1555 auch auf dem Reichstag in Augsburg diskutiert.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Inbetriebnahme des Gotthardtunnels entstanden in der Südschweiz erneut reformierte Gemeinden, im Gebiet Locarnos 1887. Im Reformationsjahr 2017 wird in der Stadt mit zahlreichen Aktivitäten an das Schicksal der Reformierten erinnert, unter anderem mit dem Theaterstück „Die Vertreibung“.
Die protestantische Reformation hat in besonderer Weise die Geschichte der Stadt Locarno gekennzeichnet, die in jener Zeit gemeine Herrschaft der Eidgenossenschaft war. In den 40er Jahren des 16. Jahrhunderts entfaltete sich in der Stadt eine lebendige und zahlreiche protestantische Gemeinde, die schliesslich zum Exil gezwungen wurde.
Links
Città di Locarno: www.locarno.ch/it
Chiesa Evangelica-Riformata di Locarno e Dintorni: www.cerl.ch
Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK: www.kirchenbund.ch/de